Fang das Licht!

Viel zu spät natürlich: Eine Nachschau auf die „Sommergespräche“ mit Werner Kogler. Das ganze Leben ist ein Kompromiss.

Ich muss gestehen, ich bin vergesslich, ziemlich sogar. Menschen, Begebenheiten, Termine, Daten, ich vergesse alles gleich gern. Sollten wir uns kennen und uns beizeiten einmal auf der Straße begegnen, wundern Sie sich bitte nicht, dass ich Ihnen nicht gleich so wild um den Hals falle als hätten Sie mich vor ein paar Wochen aus dem Wörthersee gezogen. Ich ersuche, mir das nicht als grobe Unhöflichkeit auszulegen, ich weiß es einfach nicht besser. Ich schreibe mir wichtige Termine in einen 30 Jahre alten Filofax und klebe mir Post-its an Orte, an denen ich häufig vorbeikomme. Wenn ich außer Haus gehe, weiß ich, dass ich fünf wichtige Gegenstände mithaben muss, ich sage sie mir vor. Ich habe natürlich ein Handy, aber mir ist technisch alles überlegen, was über ein Blatt Papier hinausgeht.

Das ist keine Alterserscheinung, ich war immer schon so. Ich habe nur bruchstückhafte Erinnerungen an meine Kindheit und Jugend, wäre ich meinen Eltern nicht mehrfach am Tag über den Weg gelaufen, hätte ich sie wohl beim Frühstück gefragt, ob ich mich neben sie setzen darf als Wildfremder, es sei kein anderer Tisch frei. Sie merken vielleicht, ich übertreibe leicht, aber Vergesslichkeit und Übertreibung, was hätte ich anderes werden sollen als Journalist?

Nutzloses Wissen allerdings brennt sich bei mir seit jeher ein ins Gedächtnis und geht nicht mehr weg, da kann ich tun was ich will. Ich habe vor einiger Zeit die fast 900 Seiten dicke, imposante Biographie von Gareth Stedman Jones über Karl Marx gelesen. Ich habe mir schon auch ein paar Fakten aus dem Buch gemerkt, aber am besten erinnere ich mich daran, dass der verheiratete Marx einen unehelichen Sohn mit Haushälterin Lenchen zeugte, den er zeitlebens verleugnete und den Friedrich Engels als seinen eigenen Buben aufzog. Weltpolitisch kaum relevant, aber was soll ich machen?

Für mich also kommt zu spät, was die Wiener Neos am 22. Juli per Presseaussendung forderten, eine „General-Amnesie“ nämlich, Gedächtnisschwund für alle also. Der Verfassungsgerichtshof hatte entschieden, dass ein guter Teil der Corona-Verordnung der Regierung vielleicht gut gemeint gewesen sein könnte, leider entsprachen die Regelungen nicht der gültigen Gesetzeslage, jedenfalls nicht jener in Österreich, in Weißrussland ginge das vielleicht. Also forderten die Wiener Pinken die Erlassung und Rückzahlung aller Strafen. „Eine General-Amnesie für alle Corona-Strafen ist ein Gebot der Fairness und der Rechtsstaatlichkeit“, schrieb Christoph Wiederkehr, Spitzenkandidat für die Wahlen am 11. Oktober in Wien. Die Amnestie eines einzigen Buchstabens kann schon viel Unheil anrichten, das werde ich mir für mein Leben merken, bei aller Amnesie.

Montagabend saß ich vor dem Fernseher und schaute mir aufmerksam die „Sommergespräche“ mit Werner Kogler an. Ich hatte mir vorgenommen, ein paar Zeilen darüber zu schreiben, aber dann sagte Simone Stribl den letzten Satz und aus. Alles weg. Nichts mehr in Erinnerung, was der Grünen-Chef gesagt haben könnte, kein Stück, kein Zitat, nichts. Ich sah mir die Analysen in der ZiB 2 an. Sofort danach, alles fort. Ich erlebte Dieter Chmelar, Lothar Lockl, Tatjana Lackner und Fritz Dittelbacher bei Ingrid Thurnher, alle brillant, alles unmittelbar danach gelöscht. Es war als hätte mein Hirn Platz gemacht für etwas, das nie kommen sollte.

Natürlich erinnere mich an einiges. Es müsste zum Beispiel dringend etwas am Rasen gemacht werden in der Lodge am Reisenberg in Wien, der Grasteppich weist mehr Lücken auf als ein alter Flokati und das kann nicht allein die Schuld der Stilettos von Simone Stribl sein. Beim ersten Mal, bei Beate Meinl-Reisinger, hatte die ORF-Interviewerin noch ein zweites Paar Schuhe mit, diesmal nicht. Riskant, wenn man bei der Vorpromotion in hohen Absätzen über die Wiese geht und die Stöckl so weit ins Gras stechen, dass sie fast in Australien aus der Erde lugen. 

Auch an Werner Kogler erinnere ich mich dunkel. Ich weiß zwar nicht, was er gesagt hat, aber wie er ausgesehen hat, das ist mir gut in Erinnerung. Er hat einen neuen Haarschnitt, jugendlich vergnügt, fast frech schaute die Frisur aus, seitlich kürzer, beinahe ein „Buzz Cut“, so wie ihn die jungen Leute in diesem Sommer gern tragen. Kogler hatte kein Sakko an, das hellblaue Hemd wirkte so glattgebügelt als wäre es unter eine Straßenwalze gekommen. Die Ärmel hatte er wie schon bei den TV-Konfrontationen aufgekrempelt, so akkurat allerdings als wären die Falten diesmal mit dem Lineal vermessen worden. Das aufgekrempelte Hemd gab den Blick auf massiv behaarte Unterarme frei. Wenn Kogler einmal beim Schwammerl brocken im Wald ein Braunbär begegnet, dann wird das Viech sich denken, schau, schau, die feine Verwandtschaft aus der Stadt trägt jetzt Herrenoberbekleidung.

Mehrmals wurde in der Sendung über den früheren Rebellen in Werner Kogler gesprochen, sogar ein Bild eingespielt, dass ihn mit langen Haaren zeigte, er lächelte sanft als er es sah. Wilder Hund ist er jetzt keiner mehr, auch wenn er immer noch lieber Burger als Tofu isst, wie er bei den quälenden Entscheidungsfragen bekannte. Besser kennenlernen sollten wir den Vizekanzler an diesem Abend, sagte Stribl. Ich weiß jetzt, dass er Sturm Graz mag und Eva Glawischnig ein bisschen lieber hat als Peter Pilz, aber ich bin auch ohne dieses Wissen bisher ganz gut durchs Leben gekommen, morgen habe ich ohnehin schon wieder alles vergessen.

Die Poesie der Amnesie

Weil ich mich an die „Sommergespräche“ am Montag nicht mehr erinnern konnte, schaute ich mir die „Sommergespräche“ am Dienstagabend erneut an, vielleicht mache ich das jetzt die ganze Woche so, wie im Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“, jeder Tag gleich. Beim erneuten Ansehen fiel mir auf, dass sich Kogler im ersten Drittel der Sendung ausschließlich verteidigen musste. Es ist ja so: Die Grünen dürfen in der Regierung herumtollen und sich Späße ausdenken, zuweilen wild und etwas bockbeinig sein, aber wenn die Kanzler-Gouvernante zum Vieruhrtee ruft, dann ist Schluss mit dem Schabernack. 

Das hatten viele Grünwähler überraschenderweise nicht erwartet. Sie dachten, die Grünen würden ins Kanzleramt stürmen, den Strom abdrehen, die Piratenfahne hissen, Sebastian Kurz auf Karottendiät setzen, Straßen zu Erdäpfelackern machen, einen Nationalfeiertag für Fahrräder ausrufen, ein paar Flieger chartern, um Ausländer nach Österreich zu holen, auch solche, die gar nicht zu uns wollen. Es kam nicht ganz so und deshalb musste Kogler viel erklären. Er tat das sinngemäß, indem er sich und seine Mitstreiterinnen nach wie vor als in die bisherigen hohen Ideale getränkt skizzierte, es brauche aber Zeit und Geduld, um der grünen Idee zum Durchbruch zu verhelfen. „Es ist ja wohl klar, dass wir uns nicht überall durchsetzen können“, sagt er und „wir werden einen Schritt tun und den nächsten hinterher“. Auch das Wort „Kompromiss“ fiel kompromisslos häufig. „Irgendwer muss das Land ja regieren,“ klang dann fast schon so wie ein Stoßseufzer.

Wenn nicht die Grünen regieren würden, dann wären es die Freiheitlichen , malte Kogler den Strache an die Wand, seine Partei positionierte er als Blauenverhinderungsverein. Stellen Sie sich vor, Kickl und Hofer wären in der Coronakrise am Ruder gewesen, warf er ein, der Name von Gesundheitsministerin Beate Hartinger-Klein wollte ihm gar nicht mehr einfallen, Heinz-Christian Strache, immerhin Vizekanzler der vorletzten Regierung, ließ er komplett unter den Tisch fallen. Erst keinen Wohnsitz und dann jetzt auch das noch.

Beim Thema Umwelt hatte er dann seine Momente. Ich glaube, wenn man Werner Kogler um drei Uhr in der Früh aufweckt, dann sagt er noch im Halbschlaf, dass wir eine Million Solaranlagen auf unsere Dächer kleben sollen. „Jede Krise ist eine Chance“, schob er nach, den Satz verwendet er häufig, vielleicht hat er sich den daheim in ein Küchenhandtuch sticken lassen. In Österreich ist es ja eher so: Da ist nicht jede Krise eine Chance, sondern jede Chance löst eine Krise aus.

Burger oder Tofu?

Ich mag diese Kamerafahrten in den Nachthimmel von Wien. Die vielen, bunten Blumen, die Feuerschalen, bei denen ich mitzitterte, ob sie nicht im Laufe des Abends ausgehen. Im Hintergrund tauchten die Lichter der Stadt auf, nur mehr aus der Ferne hörte man zwei Menschen miteinander reden, ein Tonteppich, nichts da, was man vergessen müsste, wunderbar. Simone Stribl und Werner Kogler hätten sich zu diesem Zeitpunkt auch über das Paarungsverhalten von Pavianen unterhalten können, keinem wäre es aufgefallen, mir schon gar nicht. Meine Frau saß neben mir.
„Schöne Aussicht“, sagte ich. 
„Und wer genau will das sehen?“, fragte sie. 
"Na ja“, versuchte ich Zeit zum Überlegen zu gewinnen.
„Mit Bergen dahinter ging es vielleicht ja“, sagte sie. 
Ich musste kurz darüber nachdenken, aber es stimmt wohl. Wien ist eine wunderschöne Stadt, aber von schräg oben hoffnungslos uninteressant. Nero hätte das vielleicht anders gesehen. 

Was mir beim wiederholten Ansehen der „Sommergespräche“ noch auffiel: Kogler hielt sich für seine Verhältnisse knapp. Die meisten Sätze hatten tatsächlich einen Anfang und ein Ende und ein Dazwischen, ein paar Mal musste ihn die Moderatorin bremsen, aber ich hatte mir das anders erwartet. Ich dachte Simone Stribl begrüßt den Vizekanzler, richtet die erste Frage an ihn, etwa „wie geht es Ihnen so?“, und steht dann auf, um den Rasen zu mähen oder die Hecken zu schneiden. Hin und wieder hätte sie an den Tisch zurückkehren können, um zu fragen, ob Kogler vielleicht einen Malventee will oder ein Glas Buttermilch, aber den Rest des Abends hätte sie sich mit Gartenarbeit beschäftigen können, eventuell Karl Ploberger dazu bitten, damit er sie bei der Wiese berät. Sie hätte Kogler am Ende ein paar weiße Rosen auf den Heimweg mitgeben können, es waren ausreichend viele da. Vielleicht hat sie das aber ohnehin gemacht und ich habe es wieder vergessen.

"Ahnungslosigkeit"

Ehe ich mich wieder in die Pause verabschiede, darf ich Sie auf den Disput zwischen Staatsoperndirektor Bogdan Roščić und Albertina-Direktor Klaus Albrecht Schröder aufmerksam machen. Wiens Kulturinstitutionen wurden die letzten Jahre eher mehr verwaltet als vorangetrieben, jetzt scheint eine Generation am Ruder, die aus den Häusern herausdrängt und die sich artikulieren will und das deutlich. Mich überrascht das nicht, Anfang der neunziger Jahre leitete Bogdan Roščić wortgewaltig die „TV-Redaktion“ im „Kurier“, ich war zur selben Zeit ein kleines Licht im Lokalressort. Wenig später ermunterte er als Ö3-Chef fast den gesamten Altbestand an Mitarbeitern, doch besser einen neuen beruflichen Weg außerhalb des Hauses einzuschlagen und er tat das in ähnlich freundlicher Vehemenz wie Sebastian Kurz ein paar Jahre später bei Reinhold Mitterlehner.

Im „Kurier“ erschien am Sonntag ein Interview mit Schröder, in dem er den Theatern mehr oder weniger empfahl, doch die nächsten Jahre coronabedingt geschlossen zu halten. „Wir werden die Zeit auch ohne das Lebensmittel Theater überleben“, sagte er. Roščić nahm das wenig sportlich und antwortete in einem Gastkommentar ebenfalls im „Kurier“. „Dass Corona bei vielen den Geist mehr gefährdet als den Körper, wurde in den vergangenen Monaten immer wieder eindrucksvoll dokumentiert“, schrieb er, unterstellte Schröder „Hybris, Ahnungslosigkeit und Perfidie“ und richtete ihm noch ein paar weitere Unfreundlichkeiten aus. Es kommt wieder Leben in die Wiener Kulturszene.

Verbringen Sie weiter eine wunderbare Sommerzeit, ich werde Sie jetzt ein paar Tage nicht davon abhalten. In meine Sammlung schöner Worte aus Österreich wurde gestern „Finanzmarktaufsichtsbehördengesetz“ aufgenommen. Fast so schön wie „Indirekteinleiterkataster“, von dem ich jüngst las, aber eben nur fast. Bis bald einmal!

Fotos:
Werner Kogler: "Heute", Sabine Hertel
Christoph Wiederkehr: "Heute", Sabine Hertel
Kogler, Simone Stribl: "Heute", Sabine Hertel
Bogdan Roščić: Picturedesk, Herbert Neubauer

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