Das Jahr kann gehen
Das war 2022: 40 Schlaglichter, 57 Fotos und ein paar gefüllte Paprika.

Ich mag an der stillsten Zeit des Jahres mehr die Stille, weniger die Zeit. Am 24. Dezember presst es die Menschen noch einmal aus den Häusern heraus, die meisten gehen sich Mut antrinken für den Abend im Kreis der Liebsten, mit denen man keinen Umgang pflegen würde, bestünde keine nähere oder fernere Verwandtschaft.
Die Wiener Innenstadt war im wahrsten Sinn des Wortes brechend voll an diesem Tag in diesem Jahr, das Durchkommen geriet zum Slalomlauf, der Kohlmarkt wurde zum Ganslernhang. Wer kein Weinglas oder Punschhäferl in der Hand hielt, fühlte sich irgendwie ausgestoßen, etwa so wie Doskozil in der SPÖ. Vielleicht geht es ja nur mir so, aber Weihnachten erodiert immer mehr zur Alkohol-Orgie. Die Geschicke des Landes wären mittlerweile vielleicht besser in der Hand eines Typen vom Schlag eines Caligula aufgehoben. Das ließe sich auf Wahlplakaten auch erfolgversprechend vermarkten: „Einer, der unsere Sprache spricht. Unser Kanzler Karl Caligula.“
Fünf Wochen Dauertrinken finden ihren Höhepunkt in den Stunden vor dem Heiligen Abend. Ehe die stillste Zeit wirklich still sein darf, legt sie sich noch einen ordentlichen Rausch zu, vielleicht erträgt sie sonst ihre eigene Stille nicht. Wir sollten beizeiten überlegen, ob wir das Weihnachtsfest daheim noch mit der richtigen Symbolik abbilden. Statt einen Christbaum aufzuputzen, wäre es doch passender im Wohnzimmereck eine Punschhütte zu errichten. Der Häferleinsatz bekäme eine natürliche Obergrenze, den Haushaltsdeckel.
Nach 15 Uhr hatte die Welt dann ein Einsehen. Die guten, wie die bösen Menschen kehrten in ihre Höhlen zurück, es wurde tatsächlich stiller und stiller in der Stadt. Der öffentliche Raum durfte aufatmen, er sog die frische Luft in sich auf, seit den Lockdowns war es ihm nicht mehr so gut gegangen. Es galt Kraft zu sammeln für die Zeit der Schreierei und der Knallerei und der Ballerei, die heute über uns hereinbricht. In der Silvesternacht müssen sich die Straßen und die Parks und die Boulevards und die Plätze die Ohren zuhalten, um den Lärm einigermaßen ertragen zu können.
Grüß Gott!
P















Drei Tage vor dem Fest bekam ich Post. Der Kanzler und der Vizekanzler schrieben mir, nicht mir eigentlich, sie richteten ein paar wohlgesetzte Worte an meine Funktion. Dieses Briefeschreiben hat eine längere Tradition als das Kopfweh vom Punschfuseltrinken. Der Gedanke dahinter war, wenn ich ihn richtig deute, dass die Politik an den Chefredakteur einen Brief mit Weihnachtsgrüßen schreibt, die er der Leserschaft übermitteln soll. Der Chefredakteur druckt den Brief dann ab, damit die Leserschaft weiß, dass die Politik dem Chefredakteur einen Brief geschrieben hat, in dem die Leserschaft gegrüßt wird. Es ist ein eher österreichischer Zugang zu einem Problem, das es eigentlich nicht gibt.
Vor ein paar Jahren kam kein Brief. Sebastian Kurz und sein Team waren erst kurz im Amt, sie wussten nichts von den ortsüblichen, sittlichen Gebräuchen, in diesem speziellen Fall nicht und sonst auch. Als es schon recht zügig auf Weihnachten zuging, rief ich im Kanzleramt an und erkundigte mich nach dem Wohlbefinden des Schreibens, erst da wurde die Lücke als solche erkannt. Der in der folgenden Hektik entstandene Brief, der sich gar nicht so dramatisch von seinen Vorgängern unterschied, wies eine Reihe von Rechtschreibfehlern auf, die selbst ein Deutschlehrer mit mittlerer Sehkraft kaum übersehen hätte. Wir machten das Kanzleramt freundlich darauf aufmerksam, der nächste Versuch geriet tadellos. Ich bin nicht stolz auf vieles, aber eine alte, österreichische Tradition gerettet zu haben, lässt meine Augen seither jedes Jahr rund ums Fest wässrig werden.
Dieses Jahr ging die Regierungsspitze auf Nummer sicher. Der Kanzler und der Vizekanzler übermittelten mir den Weihnachtsbrief gemeinsam, pünktlich und stilistisch ohne Makel per E-Mail. Die beiden sparten in Rückschau und Vorausblick nicht an Pathos, das Schreiben schloss mit den Worten: „Mutig in die neuen Zeiten!“ Ob der Kanzler und der Vizekanzler den Appell an uns richteten, oder mehr an sich selbst, ging nicht klar hervor, aber ich mutmaße einmal, die Regierungsspitze lud uns auf diesem Weg zum gemeinschaftlichen Bad in Drachenblut ein. Mutig will schließlich jeder sein und neue Zeiten werden geradezu herbeigesehnt, zumal die alten nicht das Gelbe vom Ei waren, auch nicht unter den Türkisen. „Mutig in die neuen Zeiten“, der Slogan wird gerne auf Plakate gedruckt, zuletzt etwa wollten Alexander van der Bellen und Sebastian Kurz mit uns „mutig in die neuen Zeiten“ marschieren. Auch das ist eine Erkenntnis aus diesem Jahr: Wir vereinsamen zunehmend auf diesem Weg.
Der Kanzler und der Vizekanzler fremdeln selbst noch etwas mit dem Tapferkeit, denn die beiden schickten mir den Brief in zwei Versionen, beide wortident, bis auf den Umstand, dass der eine mit „Sehr geehrter Herr Chefredakteur“, und der andere mit „Sehr geehrte Frau Chefredakteurin“ übertitelt war. Vielleicht fühlten sich Karl Nehammer und Werner Kogler nicht sicher, ob bei mir eine diesbezügliche Wankelmütigkeit besteht, oder sie wollten mir ein neues Universum eröffnen. Sie werden jedenfalls schön schauen, wenn ich beim nächsten Pressefoyer zwei Plätze belege. Der „Sehr geehrte Herr Chefredakteur“ und die „Sehr geehrte Frau Chefredakteurin“ werden nebeneinandersitzen und so mutig sein, dass der Kanzler und der Vizekanzler die neuen Zeiten wohl schnell zum Teufel schicken wollen.
Baba und foi ned













Am 24. Dezember habe ich dann im Kreis der Familie Monopoly gespielt, in der Kitzbühel-Edition, es handelte sich um die Aufrechterhaltung einer langjährigen Tradition aus der Epoche vor den Punschhütten. Auch hier war der Mut der neuen Zeiten spürbar. Kind Nr. 2 kränkelte, weshalb ihn Kind Nr. 3 per Notebook zuschaltete, die Kamera auf Spielfeld, Geld und erworbene Latifundien gerichtet. Der Bildschirm wurde geteilt, rechts lief ein Zufallsgenerator fürs Würfeln, die Buchhaltung wurde übers Smartphone erledigt. Mittendrin stieß Kind Nr. 1, ich muss nicht erwähnen, dass er Jurist ist, eine Diskussion über Gläubigerschutz bei Grundstücksverkäufen an, an der sich niemand beteiligen wollte. Wir hatten es lustig, am Ende gewann das Notebook, die Digitalisierung ist tatsächlich nicht mehr aufzuhalten.
Die stillste Zeit des Jahres blieb nur einen Abend still. Schon am 25. Dezember waren die Straßen wieder voll, der Durst hatte viele übermannt und überfraut, das trieb große Teile der Menschheit in die Innenstädte. Der Mangel an offenen Zapfstellen machte sich schmerzlich bemerkbar, wurde aber in den darauffolgenden Tagen großzügig behoben, nun wurde an den Standln nicht mehr auf Weihnachten angestoßen, sondern aufs neue Jahr. Die Suche nach Trinkanlässen ist in Österreich keine Mangelwirtschaft. Die Idee mit der Punschhütte im eigenen Wohnzimmer begann zu reifen.
Mir fiel ein, dass ich versprochen hatte, heuer keine Kopfnüsse mehr zu verteilen, aber nichts zu schreiben geht auch nicht, jetzt wo wir alle mutig in die neuen Zeiten aufbrechen. Also setzte ich mich hin und begann zu notieren, was mir an 2022 aufgefallen war. Es entstand kein Jahresrückblick, denn viele Ereignisse, auch wichtige, fehlen, das Kalendarische wird ohnehin auf allen Kanälen in dekadenter Üppigkeit geliefert. Krieg und Verderben ließ ich weg, Todesfälle, von der Queen über Willi Resetarits bis zu Dietrich Mateschitz und Pele, ebenso, die Partezettel begannen sich gegen Ende des Jahres wieder zu häufen. Ich habe einfach ein paar Scheinwerfer angemacht, sie sollen Schlaglichter werfen, die nichts erhellen oder verdunkeln, die Auswahl genügt sich selbst.
Ich habe mir noch kein abschließendes Urteil über 2022 gebildet. Meine Erfahrung sagt mir, dass sich vieles erst im Abstand von ein paar Jahren bewerten und einsortieren lässt. Ich wundere mich dann, was mich – angesichts der Gegenwart – in der Vergangenheit alles so beschäftigen konnte. Einiges wirkt vom heutigen Blickpunkt aus betrachtet lächerlich, bei anderen Gegebenheiten erstaunt es mich, dass ich damals die Bedeutung, die Wucht und die Dimension nicht erkannt habe. Vielleicht liegt das an meinem engen Blickwinkel. Als mich zuletzt jemand fragte, was mir von 2022 im Gedächtnis haften geblieben ist, dachte ich kurz nach und antwortete dann: „Gefüllte Paprika“.
Im Frühjahr hatte ich Corona in einer üblen, milden Form. Nach zwei Wochen hatte ich mich so zusammengeklaubt, dass ich ein paar Zeilen darüber schreiben konnte. Daraufhin meldete sich Sepp Schellhorn bei mir, er betreibt in Salzburg einige feine Hotels und Lokale, die ich leider noch nie von innen gesehen habe. Schellhorn zeigte Herzenswärme, er fragte mich, ob er angesichts meines schweren Schicksals – ich bin schließlich auch nur ein Mann – etwas Gutes für mich tun könnte. Ich überlegte einen Augenblick, dann antwortete ich: „Gefüllte Paprika wären schön.“ Ich konnte die Folgen nicht absehen.
Schellhorn betreibt auch ein Catering-Service. Wir hatten keinen genauen Termin vereinbart, aber irgendwann schaffte er es wohl in den Wald, um dort ein paar Paprika zu schlagen. Er weidete sie aus, füllte sie, wohl auch um dem Namen „Gefüllte Paprika“ Genüge zu tun, verpasste ihnen am Herd eine Art Sonnenbrand, fabrizierte eine Soße dazu und verpackte das Gut gut. Er lebt in Salzburg, das ist nicht ums Eck. Man kann Gefüllte Paprika auch nicht so ohne weiteres auf der Westautobahn aus dem Auto steigen lassen und hoffen, dass sie es per Anhalter nach Wien schaffen. Also man kann schon, aber ich glaube, es wurde noch nie probiert.
Kanzler? Wir?

















Meine Gefüllten Paprika reisten nicht per Anhalter nach Wien, es fand sich ein Mittelweg. Ein Lieferdienst wurde zwischengeschaltet. Ich bekam ab da fortlaufend Mails, die mir Sicherheit geben sollten, dass es meinen Paprika gut geht. Ich hatte mit ihnen schon eine Bindung aufgebaut und wartete bald so sehnsüchtig auf Nachrichten wie Eltern früher auf die Ansichtskarten ihrer Töchter, die zum ersten Mal allein nach Italien auf Urlaub gefahren waren. Leider hatte ich mich dazu entschlossen, die Ware an meine Büroadresse zustellen zu lassen. Sie traf prompt am Freitagnachmittag ein, ich war nicht da, der Empfang nicht besetzt, den Paprikas drohte ein Ende im Tierquartier.
Der Fahrer des Lieferdienstes rief mich an, er war freundlich, aber sagen wir einmal so: Die Empathie gegenüber Gefüllten Paprika hat ihn nicht umgebracht. Ich bot an, in einer halben Stunde im Büro zu sein, er beschied mir, nicht warten zu können. Es gelang mir, seine nächsten Zustelladressen zu erfragen und es setzte etwas ein, das durchaus im Drehbuch eines Klamaukfilmes Platz finden könnte, ich machte mich nämlich mitten in Wien mit dem Auto auf die Jagd nach den Gefüllten Paprika. Das zog sich eine Zeitlang dahin. Der Lieferfahrer spielte mit mir Hase und Igel, ich fuhr Adressen an, an denen er schon gewesen war. Oder noch gar nicht.
Alles ging gut aus. In Mariahilf gelang es mir, mein Auto hinter den Lieferwagen zu setzen. Showdown! Eine enge Straße, ein Klein-Lkw, die Gefüllten Paprika und ich. Der Lenker öffnete die hintere Tür des kleinen Lastwagens und holte eine winzige Schachtel hervor, meine kalte, heiße Ware. Ehe ich sie daheim aufkochte, haben wir uns noch eine Zeitlang unterhalten, Paprika sind gar nicht so fad wie einige sagen. Sie schmeckten vorzüglich. Um einem klassischen Chefredakteurs-Schicksal 2022 zu entgehen, füge ich der guten Ordnung halber an, dass ich die Lieferung ordnungsgemäß gezahlt habe, es gibt auch keine kompromittierenden Chats darüber. Aber Sie werden nun vielleicht verstehen, warum mich dieses Ereignis so geprägt hat.
Bilder einer Ausstellung








