Ein Dorf in der Stadt

Im Sonnwendviertel hat der Verein "Gleis 21" mithilfe eines Wiener Architekturbüros ein riesiges Wohnhaus aus Holz errichtet, mit dem Ziel, gemeinschaftliche statt anonyme Urbanität zu leben.

Credit: Hertha Hurnaus

Credit: Hertha Hurnaus

Der Hauptbahnhof ist von hier aus zu Fuß erreichbar. Auf der Wiese treffen sich Freunde zum Picknick, während sich die Kinder auf dem großen Spielplatz austoben dürfen.

Ein groß angelegter Motorikpark bietet auch den Erwachsenen spielerische Trainingsmöglichkeiten an und als gemütlicher Treffpunkt steht das Cafe gegenüber zur Verfügung. Wir befinden uns im Sonnwendviertel im zehnten Wiener Gemeindebezirk, genauer gesagt im Helmut-Zilk-Park.

Vor wenigen Jahren war der Stadtteil in Favoriten noch fast unbewohnt. Erst 2016 wurde der Park, das grüne Zentrum des Viertels, eröffnet. Das Gebiet in der Nähe des Hauptbahnhofs ist seitdem stark gewachsen, zahlreiche Wohnprojekte wurden hier verwirklicht.

Und es wird weiterhin viel gebaut. Noch immer ragen mehrere Kräne in die Luft. Unter den vielen Wohnblöcken sticht ein Haus besonders hervor. Es ist jenes in der Bloch-Bauer-Promenade, ein Hybrid-Bau aus Holz und Beton.

Das Gebäude wurde von der Baugruppe "Gleis 21" mit dem Ziel erbaut, gemeinschaftliche statt anonyme Urbanität zu leben. Zusätzlich möchte der Verein das Grätzel durch kulturelle, soziale und gastronomische Aktivitäten bereichern.

Gemeinsam Wohnraum schaffen

Eine Baugruppe ist ein Zusammenschluss mehrerer Personen, die sich dazu entscheiden, gemeinsam und selbstbestimmt Wohnraum zu schaffen. So entstehen immer wieder neue Formen des Zusammenlebens und innovative Grundrisse. In Wien erleben Baugruppen momentan einen regelrechten Hype.

Der Bau von Gleis 21 wurde im Sommer 2019 fertig gestellt. 46 Erwachsene und 23 Kinder sind Ende Juni in das 4000 Quadratmeter große Holz-Haus in der Bloch-Bauer-Promenade eingezogen.

Die Gemeinschaftsküche im Dachgeschoss (Credit: Hertha Hurnaus)

Die Gemeinschaftsküche im Dachgeschoss (Credit: Hertha Hurnaus)

Das partizipative Projekt wird von allen Bewohnerinnen und Bewohnern aktiv durch Eigenleistungen und mitmenschliches Engagement getragen. Drei zentrale Visionen stehen dabei im Mittelpunkt: Solidarisch leben, nachhaltig genießen, medial und kulturell gestalten.

Vorteile aus beiden Welten

"Wir sind ein Dorf in der Stadt, das ist das Schöne an diesem Konzept. Wir vereinen die Vorteile der Stadt, wie z.B. ein vielfältiges Angebot oder den Grad der Anonymität mit Vorteilen des Dorfes. Wir kennen einander und somit gibt es mehr Zusammenhalt und Miteinander", erklärt Martina Handler, Mitglied der Baugruppe und Bewohnerin des Hauses.

Die 59-Jährige kennt das Konzept seit der Gründung eines der ersten Gemeinschaftswohnprojekte, der Sargfabrik, vor rund 25 Jahren. Als sie vor einigen Jahren eine Veranstaltung zum Thema gemeinschaftliches Wohnen moderierte, kam der Kontakt mit dem Architekten von Gleis 21 zustande.

Veranstaltungssaal als Herzstück

34 Wohnungen beinhaltet der Bau, darunter Appartements für Gäste und geflüchtete Menschen. Das Haus bietet zudem eine große Gemeinschaftsküche auf dem Dach, eine Sauna, eine Bibliothek, einen Fitnessraum, eine Werkstatt, eine Waschküche und sogar eine private Musikschule sowie einen öffentlich nutzbaren Veranstaltungssaal im Erdgeschoss.

Die beiden letztgenannten Punkte haben Monika Witzany überzeugt, beim Bauprojekt mitzumachen. Sie ist Musikerin und kam 2015 durch ihren Freundeskreis mit Gleis 21 in Berührung. "In meinem Leben war gerade Zeit für Veränderung und ich war einfach neugierig. In diesem Raum können Leute ihren Ideen ein Sprachrohr geben. Das mitzugestalten, war reizvoll für mich", sagt die 48-jährige Oberösterreicherin.

Das Zusammenleben mit mehreren Menschen ist ihr aber keinesfalls fremd. Bereits ihre Eltern haben mit anderen Familien ein Projekt auf einem Biobauernhof verwirklicht. "Ich mag die Nähe und Distanz zu meinen Nachbarn im urbanen Bereich. Wir leben und gestalten miteinander, sind aber gleichzeitig unabhängig", meint Witzany.

Der Veranstaltungsraum im Erdgeschoss ist das Herzstück der Anlage. Konzerte, Theatervorführungen, Kabarett-Vorstellungen, Diskussionen, Filmabende, Seminare, Workshops, sowie Verlobungs- oder Geburtstagsfeiern haben hier bereits stattgefunden.

Aufgrund der Corona-Pandemie konnte der Raum in den letzten Monaten für Veranstaltungen nicht genutzt werden. Jetzt im Herbst finden nun aber wieder Events im kleinen Rahmen statt, natürlich mit den vorgegebenen Abstandsregeln und Vorsichtsmaßnahmen. 

Auch gibt es eine Kooperation mit dem Burgtheater. Dabei liegt der Fokus auf Aufführungen für ein junges Publikum. Ein (zur Zeit noch leer stehendes) Café bzw. Restaurant befindet sich ebenfalls im Erdgeschoss. Dafür wird noch ein Gastronom gesucht. Unter anderem könnte die Fläche auch für Büros vermietet werden.

"Den Investoren geht es nur um's Geld"

Johannes Wüst lebt mit seiner Familie in einer 85qm-Wohnung im Gleis 21. Aufgrund der Mitgestaltungsmöglichkeiten begannen er und seine Frau sich vor einigen Jahren für Baugruppen zu interessieren. "Es gibt viel mehr Möglichkeiten als am normalen Markt. Du kannst die Architektur und Materialien mitgestalten, sowie entscheiden, wie die Räume aussehen", so der 32-Jährige.

Im Architekturstudium hatte er erstmals von dem Konzept erfahren. Gleichzeitig wollte er etwas gegen das derzeitige kapitalistische Wohnbausystem unternehmen. "Den Investoren geht es ja nur ums Geld und nicht um Wohnqualität. Mit einer Baugruppe bist du Herr oder Herrin über dein Haus", erklärt der Architekt.

22 Personen waren im Jahr 2015 dabei. Der Platz war als gefördertes Grundstück von der ÖBB und der Stadt Wien ausgeschrieben. Schlussendlich hat die Baugruppe Gleis 21 mit ihrem Konzept den Wettbewerb gewonnen.

Gemeinsam mit dem Wiener Architekturbüro "Einszueins", das sich auf die Planung von Partizipationsprojekten spezialisiert hat, haben nach dreijähriger Vorlaufzeit im November 2017 die Bauarbeiten begonnen.

Soziokratisch organisiert

Da Nachhaltigkeit für die Gruppe einen wichtigen Teil einnimmt, erschien die Bauweise aus Holz und Beton ökologisch sinnvoll. "Es ging darum so ökologisch wie möglich und so leistbar wie nötig zu bauen. Und wir durften ja eine gewisse Bausumme nicht überschreiten", betont Martina Handler.

Finanziert wurde das Projekt über 20 Prozent Eigenmittel, 20 Prozent Wohnbauförderung und 60 Prozent Kredit. Der Verein "Gleis 21" ist Eigentümer des Hauses und muss sich somit auch um die Hausverwaltung und Finanzen kümmern.

Credit: Hertha Hurnaus

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Der Helmut-Zilk-Park (Credit: picturedesk.com)

Der Helmut-Zilk-Park (Credit: picturedesk.com)

Gerade diese Punkte stellen die Gruppe oft vor Herausforderungen. Der Verein ist soziokratisch organisiert. Jede Arbeitsgruppe agiert in einem klar umrissenen Tätigkeitsfeld und kann hier auch selbstständige Entscheidungen treffen.

"In Gruppenprozessen geht es ja nie ohne Konflikte. Soziokratisches Entscheiden bedeutet nicht eine hundertprozentige Zustimmung, sondern es geht darum eine praktikable Lösung zu finden, gegen die es keinen Widerstand gibt. Das ist leichter zu erreichen", erklärt Martina Handler.

Die Arbeitsgruppen, die aus fünf bis sieben Mitgliedern bestehen, treffen sich alle zwei bis drei Wochen. Unterteilt sind sie in folgende Bereiche: Architektur, Gemeinschaft, Veranstaltung, Kooperation, Kommunikation, Organisation, Grünraum, sowie Finanzen & Recht.

Weiters gibt es einen Leitungskreis und ein Leitungsteam, die Mitglieder werden jedes Jahr neu gewählt. Einmal im Monat findet die gesamte Baugruppe zusammen.

"Jede AG ist offen für jeden, auch wenn man kein Mitglied ist. Und manche Themen überschneiden sich auch. Es gibt auch kaum jemanden, der nur zu einem Treffen geht", sagt Johannes Wüst.

Solidarität in der Krise

Die Anfangsphase nach dem Einzug war für die Gruppe fordernd. "Es gibt doch viele Aufgaben im Haus zu erledigen. Auch müssen wir jedes Monat Geld erwirtschaften und wir machen das alles ehrenamtlich. Diese Bereitschaft für das Projekt aufrecht zu erhalten, ist eine Herausforderung", betont Handler.

Die Sargfabrik hat mittlerweile einige Angestellte, die die Bewohner unterstützen. Auch Gleis 21 könnte sich ein ähnliches Modell vorstellen.

Aufgrund der Corona-Pandemie gab es für die Mitglieder des Vereins weitere Herausforderungen zu bewältigen. Während des Lockdowns wurden die Treffen der Arbeitsgruppen via Zoom-Konferenzen abgehalten.

Johannes Wüst, Monika Witzany und Martina Handler (Credit: Stefanie Riegler)

Johannes Wüst, Monika Witzany und Martina Handler (Credit: Stefanie Riegler)

Credit: Stefanie Riegler

Credit: Stefanie Riegler

Der Motorikpark (Credit: picturedesk.com)

Der Motorikpark (Credit: picturedesk.com)

Bestimmte Räumlichkeiten, die sonst für alle zugänglich waren, mussten auf einmal reserviert und durften nur einzeln betreten werden.

Das Zusammenleben hatte sich somit schlagartig verändert. Laut Wüst war jedoch die Solidarität unter den Bewohnern gerade in dieser Zeit deutlich spürbar. Viele haben etwa Einkäufe für die älteren Nachbarn erledigt.

"Baugruppen tun dem Grätzel gut"

Rund 20 gemeinschaftliche Wohnprojekte gibt es derzeit in Wien und die Nachfrage ist weiterhin groß. Was hat es also mit diesem Hype rund um Baugruppen in der Bundeshauptstadt auf sich?

Für Martina Handler ist das einfach erklärt: "Die Stadt Wien hat gemerkt, dass Baugruppen dem Grätzel gut tun, weil hier engagierte Leute am Werk sind, die einen Anspruch an das Zusammenleben haben und auch bereit sind, dazu beizutragen. Als einzelner in einem Stadtviertel etwas zu verändern, ist viel schwieriger. Mit einer Gruppe kann man mehr bewegen."

Die nächsten Events im Kulturraum Gleis 21:

3. Oktober, 20.30 Uhr: Daniela Propocio Trio

8. Oktober, 18.30 Uhr: Balkanzug fährt ab - Nikola Zarić Quintett

18. Oktober, 15 Uhr: Lena Magdalena/Musikschule Klangwerk – Kinderkonzert

Weitere Infos unter https://gleis21.wien/

Credit: Stefanie Riegler

Credit: Stefanie Riegler