Wann ist man ein echter Österreicher, Ivo?
Auf ein Kickerl mit Fußball-Legende Ivica Vastic

Der Sommer 1998 war mein erster in Österreich. Ich hatte gerade neue Freunde gefunden, mich tatsächlich schon relativ gut hier eingelebt und konnte schon ein wenig Deutsch sprechen.
Die Einwechslung in Minute 74
Die Weltmeisterschaft sah ich mir aber dennoch nur wegen meines Heimatlandes Kroatien an. Und was war das für eine WM! Zum ersten Mal sah man die karierten Dressen auf der Weltbühne des Fußballs. Sofort schossen sich die "Kockasti" in die Herzen der Zuschauer. Allen voran Davor Suker, der später auch Torschützenkönig werden sollte. Im Halbfinale schied man leider gegen den Veranstalter Frankreich aus. Die Franzosen sollten auch 20 Jahre später Thema für die Kroaten werden, das ist aber eine andere Geschichte.
Ehrlich gesagt wusste ich mit meinen fünf Jahren gar nicht, dass auch Österreich bei der WM mitspielte. Irgendwie interessierte es mich wohl nicht. Jedenfalls nicht bis zum 17. Juni 1998. Österreich spielte gegen Chile, es lief gerade die 74. Spielminute und die Herren in Weiß waren 1:0 hinten. Bei einer Spielunterbrechung rief Trainer Herbert Prohaska den Stürmer Mario Haas vom Feld und wechselte stattdessen Ivica Vastic ein.
Der Traum jedes Balkan-Buben
Ich kann mich ziemlich gut daran erinnern, dass ich nicht ganz verstand, weshalb jemand mit "ic" im Namen für die österreichische Mannschaft auflief. Aber ich nahm es zunächst einmal hin. Es interessierte mich auch nicht wirklich sonderlich lange, bis dann die Minute 92 eingeläutet wurde. Gleich würde der Schiedsrichter abpfeifen und die Niederlage der Österreicher besiegeln. Doch kurz bevor der Pfiff ertönte, kam Ivica an den Ball, dribbelte durch drei Spieler durch und zog aus 16 Metern einfach ab.
Die Kugel landete unhaltbar im Kreuzeck. Das Land war plötzlich im Ausnahmezustand. Ein Kroate hielt die WM-Träume der Österreicher am Leben. Und dann noch so spektakulär!
Zwar schied das österreichische Nationalteam nach der Niederlage gegen Italien schon in der Gruppenphase aus. Ein Held wurde dennoch geboren. Eine große Tageszeitung titelte: "Ivo, jetzt bist du ein echter Österreicher!" Wen wundert es also, dass er für mich persönlich zum Idol wurde. Ein Kroate, der in Österreich so zelebriert wird, als ob er einer von ihnen ist. Damals der Traum jedes Burschen vom Balkan.



Keine Interviews! Außer...
Ganze 22 Jahre später bin ich auf dem Weg zur Austria Akademie. Ivo ist dort Individual-Trainer. Sein Spezialgebiet - wie sollte es auch anders sein - Stürmer!
Er macht eigentlich nur ungern Interviews, sagt mir Ivica. "Die letzten 30 Jahre waren schon genug", lacht er. Zu oft habe er schon dieselben Fragen beantwortet. Für mich würde er aber eine Ausnahme machen.
Das machte mich natürlich ein wenig nervös. Immerhin ist Vastic eine Legende für mich. Da habe ich nicht vor, ihn zu langweilen. Oder noch schlimmer: zu verärgern.
Ivo macht die Regeln
Deshalb schlage ich ihm eine kleine Challenge vor. Ich weiß, dass der ehemalige Stürmer aktuell gerne den Golf-Schläger schwingt. Deshalb frage ich ihn, ob er Lust auf eine Runde "Fußball-Golf" hätte.
Hat er. Ivo sagt sofort zu. Er sei zwar ein wenig verletzt, würde aber einfach mit dem linken Fuß spielen. Immerhin bin ja nur ich der Gegner. Das sollte reichen.
Der Ex-Nationalkicker steigert sich dann so sehr rein, dass er eigene Regeln aufstellt. Ich kam mit der Idee: Auf der Torlinie stellen wir einen Mistkübel auf, wir fangen bei der gegenüberliegenden Seite an. Wer zuerst trifft, gewinnt.
Für Ivo ist das aber zu simpel. Er will das Ganze ein wenig komplexer gestalten: Und zwar fangen wir bei der linken Eckball-Fahne an. Das erste Ziel ist der Sechzehner-Halbkreis. Wenn der Ball drinnen liegt, muss der Mittelkreis getroffen werden. Vorletztes Ziel ist der zweite Sechzehner. Und zum Schluss muss dann schließlich der Ball im Eckball-Viertelkreis liegen bleiben. Ist mir fast schon einen Tick zu viel, aber ich habe nichts zu verlieren.


Das Match gegen die ehemalige Heimat
Wir gehen also in Richtung Eckball. Auf dem Weg frage ich ihn gleich, wie er denn zu Kroatien steht. Für mich ist es nämlich so, dass ich mich direkt mit Personen verbunden fühle, die ein rot-weiß-kariertes Trikot tragen. Geht es ihm genauso?
"Ich habe schon überall gespielt, also habe ich überall Verbündete", lacht Ivo. Aber natürlich hat er trotzdem eine besondere Verbundenheit zu Kroatien. Während der WM 2018 war er selbst in seinem Geburtsland. "Es war ein unvergesslicher Sommer", erzählt er mir. Er selbst trug zu der Zeit auch das Dress der Kockasti mit Stolz.
Dann gibt es auch ein wenig Trash-Talk in meine Richtung: Er hat nämlich ein Original-Trikot von Luka Modric, welches er ihm nach dem EM-Spiel 2008 gab. Zugegeben: Meines ist nur irgendein Fake-Shirt von einem Bazar.
Ivo erzählt mir dann vom Match gegen Kroatien: "Es war schon ein mulmiges Gefühl." Aber er ist Profi und geht auf den Platz, um zu gewinnen. "Leider hat es nicht geklappt", fügt er am Ende hinzu.


Der geht daneben
Ivo setzt dann zum ersten Schuss an. Und er verfehlt. Das nimmt mir ein wenig Druck von meinen Schultern. Ich habe schon befürchtet, dass er jedes Feld mit dem ersten Versuch trifft. Das hätte für mich äußerst peinlich enden können.
So ziehe ich nach und sehe meine Chance, der Legende zu zeigen, was ich draufhabe. Ich ziele, laufe an - und schieße noch weiter daneben als er. Mit meinem starken Fuß übrigens.
Ivica ist wieder dran und puttet den Ball ganz locker in den Halbkreis. Ich will es ihm nachmachen und trete, ohne groß nachzudenken, auf die Kugel. Ein großer Fehler!
Ein Spiel auf Augenhöhe
Der Ball geht deutlich am Ziel vorbei. Die Schmach ist riesig. "Ich war zu cool", versuche ich mich rauszureden. Ivo lacht: "Ja, das sind die schwierigsten."
Beim zweiten Versuch konzentriere ich mich dann mehr und positioniere meinen Ball direkt neben dem von Ivica. Von hier aus geht es weiter in Richtung Mittelkreis. Eine weite Strecke.
Ivo erklärt mir, dass ich einen Schlag hinten bin, weshalb ich vorlegen muss. Ich behalte meinen Fokus und überlasse nichts dem Zufall. Mit dem ersten Schuss liegt der Ball bereits im Mittelkreis. Ich bin wieder voll im Spiel. Vor allem deshalb, weil Ivica nicht sofort trifft. Er muss ein zweites Mal anlaufen. Gleichstand also.
Der Krieg brachte uns nach Wien
Ivo und ich haben ja eine relativ ähnliche Vergangenheit. Beide in Kroatien geboren. Beide in den 90ern nach Österreich gekommen. Der Grund: Krieg.
Ivica erzählt mir, dass er einfach Fußball spielen wollte. Und das ging irgendwann nicht mehr. Kroatien hatte sich gerade vom restlichen Jugoslawien abgespalten. Er spürte, dass irgendwas passieren würde. Spiele wurden abgesagt. Trainiert wurde auch nicht mehr.
Ihn zog es wie viele andere Balkaner nach Österreich. Genauer gesagt nach Wien. Er heuerte bei der Vienna an, wechselte nach kurzer Zeit zu VSE St. Pölten, dann zog er sich das Dress von Admira über, ehe es nach Deutschland zum MSV Duisburg ging.
Immer rot-weiß, aber nie kariert
Die österreichische Staatsbürgerschaft bekam er schnell. "Ich war schon vier Jahre in Österreich und konnte die beantragen", erzählt er mir im Mittelkreis. Das tat er auch deshalb, weil sich dann die Vereine einfacher taten, ihn im Kader aufzustellen. Damals durfte man lediglich drei Legionäre im Team haben. Mit dem Erhalt der Staatsbürgerschaft war das Problem aus der Welt geschaffen.
Bereut er es, dass er niemals für das kroatische Nationalteam aufgelaufen ist? "Nein, ich war ja auch mit Österreich bei der WM", grinst Ivo schelmisch. Man sieht, dass er sofort sein legendäres Tor gegen Chile vor Augen hat.
Ich möchte wissen, wie sich der Treffer für ihn angefühlt hat. Ivica ganz trocken: "Das ist eben etwas, was mich ausgezeichnet hat. Ich habe bis zum Schluss gespielt und versucht ein Tor zu machen." Er erinnert sich auch an seinen späten EM-Treffer gegen Polen. Welches Tor mehr Bedeutung für ihn hat? Das kann er nicht sagen. Beide seien etwas ganz Besonderes gewesen. "Das schönere war aber sicher gegen Chile", so der ehemalige Stürmer.


Ivo, der echte Österreicher
Ich treffe dann übrigens mit meinem ersten Versuch den zweiten Sechszehner-Halbkreis. Ivo braucht auch hier zwei Anläufe. Ich frage ihn ganz frech, ob ich denn nun einen Vertrag bei der Austria bekommen könnte. Er bejaht ganz spontan. Ich solle aber zur Sicherheit nochmal Peter Stöger fragen.
Im Sechzehner frage ich Ivica dann, ob er sich als echten Österreicher sieht? Ich erzähle ihm von den Schlagzeilen von vor 22 Jahren, als er über Nacht zum "richtigen Österreicher" wurde. Er selbst grübelt ein wenig nach: "Was ist ein echter Österreicher? Wie schaut der aus?"
Er lebt gerne in diesem Land, sagt er mir. Auch habe er sich seiner Meinung nach gut integriert. "Es ist heutzutage sowieso alles multikulti", betont Ivo. Wichtig sei es, sein Gegenüber immer mit Respekt zu behandeln, "Egal ob er aus Österreich, Kroatien oder der Türkei kommt. Wir sind alle Menschen."
Dass er erst nach seinem Tor gegen Chile zum "richtigen Österreicher" avanciert ist, findet er dennoch amüsant: "Anscheinend muss man sich diesen Titel erarbeiten."
Ivo sollte zu Elfer: "Konnte das nicht!"
Ich möchte vor dem Finale noch wissen, ob er sich selbst als Fan eines Vereins sieht. Zum Beispiel von Hajduk Split. Der Klub seines Geburtsortes. Oder fühlt er sich doch eher zu Sturm Graz hingezogen?
"Das ist bei beiden ein anderes Gefühl", erklärt er mir. "Bei Hajduk hat das viel mit der Kindheit und der Jugend zu tun. Bei Sturm hat das natürlich andere Gründe."
Ivo erzählt mir dann von einem Freundschaftsspiel gegen Hajduk Split. Sturm bekam damals einen Elfmeter zugesprochen. Er hätte antreten sollen. Ivo erinnert sich: "Ich konnte das nicht machen. Das war zu emotional für mich." Ein anderer Spieler ging zum Elferpunkt. Das Ergebnis: "Wir haben 1:0 verloren", lacht er.
Kampf mit allen Mitteln
Er versichert mir aber, ohne nachzudenken, dass er bei einem Pflichtspiel selbst angetreten wäre und das Tor gemacht hätte. Wenn es um etwas geht, dann kennt er keine Gnade.
Auch beim Fußball-Golf möchte er siegen. Zwei Schüsse ist er hinten nach. Ivo ist quasi darauf angewiesen, dass ich versage. Nach unseren ersten Kicks in Richtung Eckball-Fahne resümiert er: "Beide gleich schlecht!"
Tatsächlich "locht" Ivica beim zweiten Versuch ein. Ich brauche etwas länger, weil ich bei einem vermeintlich einfachen Schuss kläglich versage. Ivo nimmt die Golf-Regeln ernst, holt sogar die Fahne aus dem Boden und setzt mich unter Druck: "Triffst du meinen Ball, dann gibt es zwei Strafpunkte".
Ich bleibe aber cool und treffe bei meinem zweiten Anlauf. Sieg für mich! Wir einigen uns trotzdem auf ein Unentschieden. Irgendwie fühlt es sich nicht richtig an, gegen Ivica Vastic zu gewinnen.


Die Legende, Ivica Vastic
Zum Abschluss spreche ich Ivo auf seinen Einfluss auf die Balkan-Community an. Er sei sich seiner Wirkung bewusst, aber Spieler seien nun mal dazu da, um auch Idole für Fans zu sein.
"Ich weiß, dass ich Fans in Kroatien, aber auch in Serbien und Bosnien habe", so der Star-Kicker. Als Legende sieht er sich selbst aber nicht: "Ich bin um nichts besser, nur weil ich besser Fußball spielen kann als manche andere."
Eine Sache möchte ich von ihm aber noch wissen: "Würde der Spieler Ivica Vastic den Trainer Ivica Vastic mögen?" Er überlegt eine Weile und antwortet dann: "Ich glaube schon."
Und umgekehrt? Wäre der Spieler Vastic etwas für ihn als Trainer? Da braucht er nicht lange zum Nachdenken: "Am liebsten wären mir elf Ivica Vastic!" Wenn diese Antwort nicht legendär ist, dann weiß ich auch nicht.
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